Neue Studie zu Diabeteskomplikationen: Die Rolle des Migrationsstatus bei Folgeerkrankungen und Sterberisiko
In Europa lebende Menschen mit südasiatischen und afrikanischen Wurzeln erkranken häufiger an Typ-2-Diabetes als die europäische Mehrheitsbevölkerung. Dennoch versterben sie seltener an den Folgen der Erkrankung. Das liegt auch daran, dass schwere Komplikationen wie Herzinfarkte und Schlaganfälle seltener auftreten. Andere Komplikationen an Nieren und Augen wie Nephropathie oder Retinopathie kommen wiederum etwas häufiger in dieser Bevölkerungsgruppe vor. Das zeigt eine große Metaanalyse1, die Daten von 54 Vergleichsstudien mit insgesamt 1,2 Millionen Migrantinnen und Migranten in Europa ausgewertet hat. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) fordert sowohl für Menschen mit Migrationsgeschichte als auch für alle anderen Personen mit Diabetes, gezielte Diagnose- und Therapiemaßnahmen sowie Teilhabe an Präventionsangeboten – gegebenenfalls auch durch Überwindung von Sprachbarrieren. Darüber hinaus müssen sowohl die Diabetesversorgung für alle Betroffenen sichergestellt als auch dabei Lebensstilbesonderheiten berücksichtigt werden.
„Die Übersichtsarbeit im British Medical Journal1 zeigt, dass Personen mit eigener oder elterlicher Migrationsgeschichte in Europa trotz ihrer deutlich höheren Diabeteserkrankungsraten ein um 28 Prozent geringeres Risiko für schwere Herz-Kreislauf-Komplikationen haben. Das Sterberisiko liegt sogar um etwa 30 Prozent unter dem der europäischen Mehrheitsbevölkerung “, sagt Professorin Dr. Ina Danquah, Vorsitzende der AG Diabetes & Migration der DDG und Direktorin am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn und Leiterin der Forschungsgruppe Klimawandel, Ernährung und Gesundheit am Heidelberger Institut für Global Health (HIGH). Diese Ergebnisse widersprechen bisherigen Studien, die mehrheitlich aus den USA stammten und ein durchweg erhöhtes Risiko für Diabeteskomplikationen bei Migrantinnen und Migranten beschrieben hatten.
Eine Ursache für weniger sogenannte makrovaskuläre Komplikationen – also diabetische Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall – könnten genetische Schutzfaktoren sein. So weisen etwa Menschen aus Herkunftsländern im südlichen Afrika ein günstigeres kardiometabolisches Profil auf, z.B. Blutfettwerte betreffend. Weitere Gründe dafür könnten sein, dass bei Migrantinnen und Migranten aus dem asiatischen und afrikanischen Raum seltener Risikofaktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Bluthochdruck bestehen als in der Allgemeinbevölkerung. Außerdem gibt es Hinweise, dass Ärzte bei Migrantinnen und Migranten von einem höheren Risiko ausgehen und früher antidiabetische Medikamente einsetzen.
Mikrovaskuläre Komplikationen oft zu spät erkannt
Anders sieht es bei mikrovaskulären Komplikationen aus. Dazu gehören Nieren- und Augenschädigungen. Die Übersichtsarbeit zeigt: Besonders Patientinnen und Patienten südasiatischer und afrikanischer Herkunft leiden etwas häufiger unter Nierenerkrankungen (Nephropathie) und Augenerkrankungen (Retinopathie) als die europäische Durchschnittsbevölkerung. Gründe für diesen Befund sind unklar – ebenso die Beobachtung, dass diese Bevölkerungsgruppe eine geringere Todesrate und geringere makrovaskulären Erkrankungen aufweist.
„Mikrovaskuläre Komplikationen stellen für alle Diabetespatienten eine große Gefahr dar – vor allem, weil sie oft unbemerkt bleiben“, warnt Dr. med. Alain Barakat, stellvertretender Vorsitzender der AG Diabetes & Migration der DDG und niedergelassener Diabetologe in Duisburg. Er erklärt: „Nieren und Augen werden oft zu spät untersucht. Dabei lassen sich hier Schäden frühzeitig erkennen und gut behandeln.“ So zeigt beispielsweise die KV Nordrhein in ihrem „DMP-Qualitätsbericht 2023“2 auf, dass in ihrem Versorgungsgebiet nur bei 57,9 Prozent die Netzhaut und bei 85,8 Prozent die Nierenfunktion überprüft wurde.
Schwierige Lebensbedingungen und Zugangshürden
Danquah betont: „Migrantinnen und Migranten leben mitunter unter schwierigen Bedingungen: wenig Raum, prekäre Arbeitsbedingungen, Diskriminierung und psychischer Stress – all das kann eine konsequente Diabeteskontrolle erschweren.“ Auch Sprachbarrieren, Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem oder fehlende Kenntnisse über Vorsorgeangebote spielen eine Rolle. Solche Faktoren könnten erklären, warum schleichende diabetische Erkrankungen wie Nierenschäden und Retinopathie durch Diabetes bei Personen mit Migrationsgeschichte häufiger auftreten.
Prävention verbessern und Versorgung gezielt anbieten
„Um die genauen Ursachen für diese unterschiedlichen Risikofaktoren aufzuzeigen, müssen nun noch weitere Studien folgen“, so Danquah. Dies würde dann dabei helfen, Diagnostik und Therapie gezielter an die Bevölkerungsgruppen anzupassen und so jeweilige Komplikationsrisiken frühzeitig zu identifizieren. Für die hausärztliche und diabetologische Betreuung ergeben sich aus der Übersichtsarbeit klare Empfehlungen: Insgesamt sollte bei allen Diabetespatientinnen und -patienten konsequent auf mikrovaskuläre Komplikationen untersucht werden. „Regelmäßige Augenhintergrunduntersuchungen und Nierenfunktionstests (besonders die Bestimmung der UACR [Urin-Albumin-Creatinin-Ratio]) sind entscheidend“, betont Barakat und empfiehlt zudem eine regelmäßige Blutdruckkontrolle sowie frühzeitige nierenschützende Therapien.
Darüber hinaus ist die Aufklärung der Betroffenen wichtig. „Mit einer guten Vorsorge und konsequenter Therapie lassen sich viele Komplikationen verhindern. Wobei das für alle gilt – unabhängig von der Herkunft“, so Danquah. Wichtig sei, dass Angebote verständlich, niederschwellig zugänglich und kulturell angepasst sind. „Diabetologie ist sprechende Medizin – das gilt an dieser Stelle ganz besonders!“
Um die Versorgung zu verbessern, fordert die DDG von der Politik:
- Landesweit gut erreichbare ambulante und stationäre Versorgung
- Überwindung von Sprachbarrieren
- Niedrigschwellige Versorgung: Mobile Sprechstunden
- Individuelle Prävention: Ernährungsempfehlungen und Aufklärung passend zum Lebensstil der Zielgruppen.
„Gesundheit entsteht nicht nur in der Praxis – gesellschaftliche Teilhabe, Verständnis und gegenseitiger Respekt sind entscheidend“, resümiert Barakat.
Literatur:
1Beulens, J et al., Type 2 diabetes complications in ethnic minority compared with European host populations: a systematic review and meta-analysis, https://drc.bmj.com/content/12/6/e004345
2DMP-Qualitätsbericht 2023 der KV Nordrhein https://www.kvno.de/meta-navigation/suche/news/nachricht/dmp-qualitaetsbericht-2023-wachsende-teilnahmezahlen-und-verbesserte-versorgungsqualitaet
Krankheitsvorstellungen, kulturelle Faktoren und Therapiehürden: Die Erforschung von Diabetes bei afrikanischen Bevölkerungsgruppen - Ein Gespräch mit Dr. rer. medic. Ina Danquah https://migration.ddg.info/fileadmin/user_upload/01_Die_DDG/05_Arbeitsgemeinschaften/AG_Migranten/Microsite/Andere_Veroeffentlichungen/AR0D2B_1.PDF