„Relevanz wird manchmal vergessen“

Die AG Diabetes & Niere arbeitet daran, die Nieren stärker in den Fokus zu rücken

LEIPZIG.  Mehr Beachtung für die Nieren – das wünscht sich Professor Dr. Thomas Ebert, einer der Sprecher der AG Diabetes & Niere. Er erklärt, warum die Nieren so wichtig sind, und legt dar, warum Urin gar nicht eklig, sondern höchst nützlich ist.

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Im Interview: Professor Dr. Thomas Ebert
Der Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie ist Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Endokrinologie, Nephrologie und Rheumatologie des Universitätsklinikums Leipzig. Er ist zusammen mit Professorin Dr. Martina Guthoff Sprecher der DDG Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Niere.

Herr Professor Ebert, was haben Sie von Ihren Stationen in Tennessee und Stockholm mitgebracht, was Sie heute noch inspiriert?
Prof. Ebert: Ich finde, Auslandsaufenthalte sind generell immer horizonterweiternd, völlig egal, in welcher Sparte man tätig ist – einfach, weil man dort erlebt, wie andere Menschen, wie andere Arbeitsgruppen an wissenschaftliche Probleme herangehen und wie sie versuchen, diese Probleme zu lösen.

Ich hatte entschieden, dass ich aus einer endokrinologisch-diabetologischen Arbeitsgruppe immer in eine rein nephrologische Arbeitsgruppe wechseln möchte. Für kurze Zeit war ich in der Vanderbilt University in Nashville in einer Nierenabteilung und dann drei Jahre als Post-Doc am Karolinska-Institut in Stockholm, ebenfalls in der Nephrologie. Ich wollte immer die Schnittstelle Diabetes/Niere aus Sicht der Nephrologie wissenschaftlich betrachten und nun hilft mir die nephrologische Perspektive im Alltag als Endokrinologe und Diabetologe sehr.

Ihr wissenschaftlicher Fokus liegt auf den mikrovaskulären Komplikationen des Diabetes und hier besonders auf Nierenkomplikationen. Warum?
Prof. Ebert: Die Faszination dafür habe ich während meiner Doktorarbeit entwickelt. Ich habe in Leipzig Medizin studiert und bei meinem Doktorvater und Mentor Matthias Faßhauer meine Doktorarbeit zu Menschen mit Typ-2-Diabetes an der Dialyse begonnen. Dabei habe ich festgestellt, dass dies eine der aus meiner Sicht vulnerabelsten Patientengruppen ist. In meiner Erfahrung haben diese Patientinnen und Patienten eine sehr hohe Morbidität und Mortalität, insbesondere aber eine stark eingeschränkte Lebensqualität.

Sie sind einer der Sprecher der AG Diabetes & Niere der DDG. Was sind die Hauptanliegen der AG?
Prof. Ebert: Letztendlich sind die Nieren ja ziemlich versteckte Organe, die man in der Diabetologie manchmal vergisst. Aber sie entscheiden über Morbidität, Mortalität und Lebensqualität und wirken systemisch im gesamten Körper. Eine der Hauptaufgaben der AG Diabetes & Niere und von ihren Sprechern, Professorin Martina Guthoff und mir, ist es daher, dieses Organ wieder in die Diabetologie hereinzuholen, sowohl in die Routinediagnostik als auch in die Risikostratifizierung unserer Patientinnen und Patienten. Wir von der AG Diabetes & Niere wollen an diese Relevanz der Nieren erinnern.

Das versuchen wir auf verschiedene Art und Weise. Wir sind froh, dass wir über verschiedene Sponsoren beim Diabetes Kongress zwei Preise ausloben können – einen Posterpreis und den Paul-Kimmelstiel-Projektpreis. Damit möchten wir letztendlich auch junge Kolleginnen und Kollegen für dieses Thema begeistern. Denn beispielsweise die Routinediagnostik mit den wesentlichen Untersuchungsmethoden der Urin- und Blutanalytik erscheint evtl. auf den ersten Blick ein wenig altbacken. Jedoch sind unsere diagnostischen Methoden unglaublich vielfältig und schließen spannende neue Möglichkeiten ein, z. B. Proteomics, Radiomics und weitere Technologien.

Bei sehr vielen Menschen mit Typ-2-Diabetes – oft spricht man von 40 % – entwickelt sich eine chronische Nierenerkrankung (CKD). Wer diagnostiziert eine solche CKD?
Prof. Ebert: In der Breite kann bei so vielen betroffenen Menschen die Diagnostik nicht von nephrologischen und diabetologischen Kolleginnen und Kollegen alleine durchgeführt werden, sondern muss im hausärztlichen Bereich angesiedelt werden. Dort sollten wir das Engagement in der Diagnosestellung der chronischen Nierenkrankheit weiter stärken und neben der glomerulären Filtrationsrate (GFR) auch die Urinanalyse mit in den Diagnosealgorithmus einbeziehen. 

Denn: Die Blutwerte steigen erst spät im Laufe der Erkrankung an, während der Urin uns die Möglichkeit gibt, durch die Bestimmung der Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR) noch im sogenannten „Window of Opportunity“ zu sein, also die Erkrankung noch klinisch höchst relevant beeinflussen zu können. Für die UACR braucht es heute keinen 24-Stunden-Sammelurin mehr, Spot-Urin genügt.

Wie viele Menschen haben beides, einen Diabetes und eine CKD?  
Prof. Ebert: Ich hatte die Möglichkeit, an der Auswertung von deutschen Krankenkassendaten aus dem Jahr 2023 mitarbeiten zu können. Aus dem Datensatz geht hervor, dass die Prävalenz von Menschen mit CKD 2023 in Deutschland bei 4,2 Millionen liegt – die Hälfte davon hat Typ-2-Diabetes. Die große Frage ist: Stimmt diese Zahl? Sie stimmt höchstwahrscheinlich bei Weitem nicht, denn wir wissen aus Schätzungen, dass es in Deutschland 10 Millionen Menschen mit CKD geben müsste. Die Krankenkasse weiß von weniger als der Hälfte, dies liegt u. a. an der Diagnose- und Codierrate.  

In den letzten Jahren gab es große Fortschritte bei Medikamenten …   
Prof. Ebert: Wir leben in einer Art „goldenen Ära“, was die Nephrologie im Kontext des Diabetes betrifft. Seit längerer Zeit gibt es die ACE-Hemmer und Angiotensinrezeptorblocker. Nun haben wir plötzlich Nieren-Outcome-Studien für drei neue Klassen an Medikamenten, die den renalen Progress hinauszögern können: SGLT2-Hemmer, Dapagliflozin und Empagliflozin, haben klare nephroprotektive Eigenschaften. Auch Finerenon, ein nicht-steroidaler Mineralokortikoidrezeptorantagonist, hat günstige Eigenschaften auf den Progress der Nierenkrankheit bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Neu ist die FLOW-Studie aus dem Jahr 2024 mit dem GLP1-Rezeptor-agonisten Semaglutid. Hier konnte gezeigt werden, dass auch Semaglutid in der Diabetesdosierung den Progress der chronischen Nierenkrankheit bei Menschen mit Typ-2-Diabetes verzögern kann. 

Wir haben jetzt also vier Bausteine in der medikamentösen Therapie für Menschen mit Typ-2-Diabetes und Nierenkrankheit, die wir nutzen können, sollten – und müssen! Wir sehen leider bei uns auf Station noch zu oft Patientinnen und Patienten mit einer präterminalen oder terminalen Nierenkrankheit, die noch keine einzige der vier Medikamentenklassen erhalten haben. Letztlich versuchen wir Mitglieder der AG Diabetes & Niere daher, u. a. mit den verfügbaren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten solche Fälle in Zukunft verhindern zu können.  

Welche Rolle spielt die aufgenommene Eiweißmenge, wenn es darum geht, die CKD-Progression zu verlangsamen?   
Prof. Ebert: In Metaanalysen zeigen sich die Ergebnisse zur Eiweißaufnahme sehr uneinheitlich in Bezug auf den Progress der Nierenkrankheit. Für die meisten erwachsenen Menschen mit Diabetes und Nierenkrankheit gelten somit weiterhin die empfohlenen 0,8 g Eiweiß pro kg Körpergewicht pro Tag. Neben der reinen Proteinmenge ist zudem auch die Art der Proteine wichtig, hier gibt es einzelne Daten, dass eine Ernährung mit vorrangig pflanzlichen Proteinen Vorteile auf die Nierenfunktion bei bestehender Nierenkrankheit hat. 
Mindestens ebenso wichtig ist der Salzkonsum. Salz wirkt sich negativ auf das Herz-Kreislauf-Risiko von Menschen mit Nierenkrankheit aus, die ja per se bereits ein hohes Risiko für Herz-Kreislauf-Ereignisse haben. Daher sind die empfohlenen < 2 g/Tag wichtig, wenn auch im Alltag schwierig einzuhalten. 

Auch die Fettmasse spielt eine große Rolle, denn Adipositas ist ein unabhängiger Risikofaktor für den Progress der Nierenkrankheit. Mit einer Gewichtsnormalisierung sinkt das Risiko für eine Nierenkrankheit für Menschen mit und ohne Typ-2-Dia­betes. Das heißt: Die allgemeinen Ernährungsempfehlungen sind in vielerlei Hinsicht auch für Menschen mit CKD ganz, ganz relevant

Gibt es einen Mythos, der sich hartnäckig hält und den Sie gern entkräften möchten? 
Prof. Ebert: Die klassische Annahme „Urin ist eklig“ resultiert sicherlich noch aus der Zeit des 24-Stunden-Sammelurins – inklusive der damit verbundenen Belastungen in der täglichen (Arzt-)Praxis. Der Spot-Urin hingegen ist eine sehr gute Möglichkeit, die Urindiagnostik zu vereinfachen, zu standardisieren und den Menschen durch eine frühere Diagnosestellung etwas Gutes zu tun. 

O-Ton Diabetologie
Hören Sie sich die Podcast-Folge Folge mit Prof. Ebert in voller Länge an. Darin erklärt er u.a., was GFR und UACR mit der PS-Zahl und Schäden am Auto zu tun haben, und spricht über Dialyse und Dialysezahlen.

Günter Nuber (Interview)
Nicole Finkenauer (Interview und Zusammenfassung)