Gesundes Altern gibt es nicht
MAINZ. Über 50 % der Menschen mit Diabetes sind älter als 65 Jahre. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit für Demenz, Delir, Stürze, Frakturen, Sarkopenie und Frailty besonders hoch. Bei der Anpassung der Diabetestherapie im Alter sollten daher geriatrische Faktoren unbedingt berücksichtigt werden.
Den Erhalt der Selbstständigkeit sieht Professor Dr. Jürgen M. Bauer vom Bethanien Krankenhaus Heidelberg als den wichtigsten Outcome im Alter. Die individuelle Einschätzung ist allerdings nicht immer einfach, denn: „Altern ist komplex“, sagte Prof. Bauer. Welche Faktoren das „gesunde Altern“ beeinträchtigen, wurde in einer Sekundäranalyse der ASPirin-Studie über einen Zeitraum von 6,9 Jahren untersucht.1 „Allerdings ist dieser Begriff eigentlich ein Werbetool, denn gesundes Altern gibt es nahezu nicht“, merkte Prof. Bauer an.
Der primäre Endpunkt umfasste eine Kombination aus Gesamtmortalität, anhaltender körperlicher Beeinträchtigung und Demenz. Bei den mehr als 18.800 über 70-Jährigen, die zu Studienbeginn noch keine kardiovaskulären Ereignisse, Demenz oder Behinderung aufwiesen, war ein bestehender Diabetes mit einem um 73 % erhöhten Risiko für eine physische Behinderung verbunden. Dabei stellte Diabetes für Frauen einen deutlich größeren Risikofaktor dar als für Männer (Hazard Ratio: 2,32 für Frauen vs. 1,08 für Männer).
Für das Gesamtkollektiv ergaben sich folgende Risikoerhöhungen: erhöhte Mortalität: +45 %, Überleben ohne physische oder kognitive Behinderung: +39 %, kardiovaskuläre Ereignisse: +25 %, kognitiver Abbau: +13 %. Demnach habe Diabetes eine hohe Relevanz für den Funktionserhalt von älteren Menschen. „Wir müssen massiv präventiv denken“, betonte Prof. Bauer, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Mangels an Pflege und therapeutischem Personal. Die Antwort auf die ausgeprägte Heterogenität der älteren Bevölkerung aufgrund von Funktionalität bzw. Komorbidität und unterschiedlicher Lebensperspektiven bestehe in einer stärkeren Individualisierung der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen.
„Schauen Sie, wie Ihr Patient aufsteht oder geht!“
Entsprechende Therapieziele wurden in europäischen Konsensus-Empfehlungen und in den Praxisempfehlungen definiert.2,3 Da ein multidimensionales Assessment im ärztlichen Alltag jedoch unrealistisch sei, empfiehlt Prof. Bauer die Fokussierung auf die beiden Dimensionen Frailty/Mobilität und Kognition, mit einem regelmäßigen Monitoring, das die Dynamik der Veränderungen erfasst. „Schauen Sie sich den Gang des Patienten an, wie er aus dem Stuhl aufsteht“, riet er. Angesichts der extremen Heterogenität älterer Menschen bezüglich Morbidität und Funktionalität legte der Geriater dem Auditorium die Klinische Frailty Skala (KFS) als praxisnahes Screening-Instrument ans Herz. Technologiegestützte Selbst-Assessments wie die bereits validierte Up&Go-App und weitere Apps zur kognitiven, visuellen und akustischen Selbsttestung werden nach seiner Einschätzung in Zukunft das Gesundheitssystem entlasten und dabei Daten für die adäquate Therapie älterer Menschen liefern.
Individualisierte Blutzuckereinstellung
Bei einem schlechten Gesundheits- und Funktionszustand „kann eine HbA1c-orientierte Blutzuckereinstellung vermutlich nicht der richtige Weg sein“. Für multimorbide, in ihrer Funktionalität reduzierte Patient*innen brauche es alternative Behandlungsziele, insbesondere die Vermeidung von Hypoglykämien und einen Fokus auf kardiovaskuläre Risikofaktoren. Der Experte empfiehlt bei geriatrischen Menschen einen Shift hin zu einer direkten Hypoglykämieerfassung sowie das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM) unter blutzuckersenkenden Therapien als vielversprechenden Ansatz. Mit Blick auf eine US-amerikanische Studie wies er auch auf die Zusammenhänge zwischen Altersarmut, Nahrungsunsicherheit und dem erhöhten Risiko für behandlungsbedürftige Hypoglykämien hin. „Auch in Deutschland müssen wir uns dafür sensibilisieren, denn ganz sicher werden wir trotz Rentenreform in Zukunft mehr Altersarmut sehen“, mahnte Prof. Bauer.
Aufgrund der derzeitigen Datenlage sieht er keine Begründung für ein generelles „Deprescribing“ einer Polypharmazie für Menschen mit Typ-2-Diabetes im höheren Lebensalter. Vielmehr sei ein „individuelles Agieren“ angesagt, mit einer regelmäßigen Anpassung des Medikamentenplans an die Lebens-perspektive, der Beachtung des steigenden Nebenwirkungsrisikos bei zunehmender Vulnerabilität, der Komplexität der Einnahme und insbesondere auch der Fragilität der Appetitregulation. Eine große Studie bezüglich stationär behandelter Infektionen bei über 65-Jährigen mit Typ-2-Diabetes lege nahe, dass eine etwas großzügigere HbA1c-Einstellung (7–8 %) akzeptabel sei, Werte von 8–9 % in dieser Altersgruppe jedoch im Hinblick auf Haut-, Weichteil- und Knocheninfektionen außer in der absehbar letzten Lebensphase nicht generell toleriert werden sollten.4
Sarkopenierisiko durch neuere Therapeutika?
Auch Frailty erhöht die Mortalität und das Risiko für Krankenhauseinweisungen. In einer großen Registerstudie habe sich über das gesamte Spektrum der Frailty eine Überlegenheit von SGLT2-Inhibitoren (SGLT2i) und GLP1-Rezeptoragonisten (GLP1-RA) gegenüber DPP4-Inhibitoren gezeigt, bei fortgeschrittener Frailty allerdings mit erhöhten Nebenwirkungsraten.5 „Sie gewinnen Funktionalität bei fortgeschrittenen Frailty-Graden!“, so Prof. Bauer.
Eine Metaanalyse von 20 Studien mit mehr als 70.000 Personen mit Typ-2-Diabetes, Herzinsuffizienz und Frailty bestätigte ohne eine signifikante HbA1c-Reduzierung eine Abnahme der Gesamtmortalität um 19 %, der kardiovaskulären Mortalität um 20 % sowie der Krankenhausaufnahmen aufgrund Herzinsuffizienz um 31 % durch den Einsatz von SGLT2-Inhibitoren.6 „Man muss sich fast schon fragen, ob diese Substanzen nicht auch Frailty-Medikamente sind.“ Allerdings sei der Verlust an Muskelmasse, der mit dem Gewichtsverlust bei GLP1-RA einhergeht, im fortgeschrittenen Lebensalter nicht immer wünschenswert, warnte Prof. Bauer (siehe Kasten).
| Im Alter sichern Fettreserven Überlebensvorteile Einer Übersichtsarbeit zufolge ist der Muskelmasseverlust unter GLP1-RA im Verhältnis zum Gewichtsverlust zwar angemessen, beträgt aber ein Vielfaches des altersbedingten Muskelabbaus. Gleichzeitig erweise sich der Verlust an Fettmasse und an muskulärer Fettinfiltration unter Umständen als protektiv hinsichtlich Sarkopenie und Frailty.7 Skepsis und Zurückhaltung bei der Verordnung von GLP1-RA sind nach Auffassung von Prof. Bauer dennoch angebracht. Insbesondere bei drohender oder bereits bestehender Immobilität sei Vorsicht geboten, ebenso bei kognitiven Defiziten oder Demenz, zumal Fettreserven in diesem Hochrisikokollektiv Überlebensvorteile beinhalten können. „Gewichtsabnahme ist bei älteren Patienten über 80 Jahre immer ein schlechter prognostischer Faktor“, mahnte Prof. Bauer. |
Auch Stürze – zum Teil mit schweren Folgen wie Beckenfrakturen und Schädel-Hirn-Traumata – spielten bei älteren Menschen mit Diabetes eine zunehmend größere Rolle, so Prof. Bauer. Insbesondere bei Insulinverordnung sei das Risiko für Menschen mit Typ-2-Diabetes um 65 % erhöht. Dies lasse die Aufnahme von Sturzpräventionsmaßnahmen (inklusive des körperlichen Trainings der unteren Extremitäten) in Diabetesprogramme sinnvoll erscheinen.
Im Hinblick auf Delir im höheren Lebensalter lenkte Prof. Bauer den Blick auf das altbewährte Metformin mit pleiotroper Wirkung. Ein Delir erhöhe das Risiko für Mortalität sowie kognitiven und funktionellen Abbau deutlich. In einer Registerstudie mit mehr als 66.500 älteren Personen mit Typ-2-Diabetes konnte Metformin dosisabhängig die Delir-Inzidenz reduzieren.8 Eine aktuelle Publikation auf der gleichen Datenbasis spreche zudem für eine verringerte Inzidenz der Demenzentstehung. „Metformin bleibt eine wirklich interessante Substanz und ist finanzierbar.“
Dr. Karin Kreuel