Cem Özdemir: „Bringen Sie Ihr geballtes Wissen ein!“

Bundesernährungsminister besucht das DANK-Symposium – und hält eine überzeugende Rede

LEIPZIG.  Blitzlicht, Selfies, Personenschutz: Wenn Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) zur Diabetes Herbsttagung 2023 in die Messe Leipzig kommt, dann ist das etwas Besonderes. Auch deshalb, weil er nach seinem 30-minütigen Referat mitdiskutiert, zuhört, bis zum Ende des Symposiums bleibt. „Bringen Sie sich bitte mit Ihrem geballten Wissen weiterhin in die Debatte ein“, appellierte er an die Diabetes- und Ernährungsexpert*innen. Das DANK-Symposium „Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung: Wird Deutschland vom Schlusslicht zum Vorreiter?“ war ein Highlight der Herbsttagung.

Diabetes Herbsttagung vom 17. - 18. November 2023 in Leipzig
Foto. DDG/Deckbar

 

DDG Geschäftsführerin Barbara Bitzer drückte in der Begrüßung „große Ehre und Freude“ aus, Cem Özdemir in Leipzig als Gast und Referent begrüßen zu dürfen. Bitzer ist auch Sprecherin der DANK (Info-Kasten), die das Symposium auf der Tagung ausrichtete: „Wir sehen, dass Ihnen Maßnahmen der Verhältnisprävention ein echtes Anliegen sind.“ Wie aber sehen unsere Verhältnisse aus? Wie können wir die Chancen unserer Kinder erhöhen, gesünder erwachsen zu werden? Hochkarätige Expertise im Symposium: Professor Emma Boyland (Liverpool) ist Expertin für Lebensmittelmarketing und Kindergesundheit. Ihr Fachwissen ist weltweit gefragt, so führt sie Studien für die WHO durch zu den Auswirkungen des Lebensmittelmarketings auf Essverhalten und Gesundheit, ebenso zur Wirksamkeit von Lebensmittelmarketing-Richtlinien. 

Werbepausen? Fehlanzeige
Boyland beschrieb die Vielfalt, mit der Kinder und Jugendliche das Lebensmittelmarketing erleben: Werbespots im TV, Werbung im Feed, durch Influencer, beim Sport über Banner/Banden/Werbeclips etc. Auch über Lieferdienste und deren Apps, im Einzelhandel – Werbepausen? Quasi Fehlanzeige. Das Essverhalten der Kinder werde hierdurch erheblich gelenkt, so Boyland: Die Omnipräsenz beeinflusse, was Kinder essen, wann sie essen und wie viel sie konsumieren. Dabei gebe es doch offensichtliche Gründe, Kinder gerade hier zu schützen. Denn sie sind begeisterte Mediennutzer, in ihrer Kognition noch unterentwickelt und haben ein Recht darauf, dass sie und ihre Gesundheit geschützt werden.

Analysen Prof. Boylands zur Studienlage ergaben: Die Werbeindustrie bedient genau die relevanten Themen der Kinder und Jugendlichen, bezieht sie und ihre Lebenswelt ein, macht genau diese zu den Werbethemen. Ungesundes Essen werde als spaßstiftend dargestellt, als lecker, genussvoll, als Event für Familien, als Feature im Sport. Digitalwerbung werde zunehmend personalisiert und gezielt ausgerichtet auf junge Menschen, die ja meist die ersten sind, die sich mit neuen Technologien auseinandersetzen.

Restriktion wirkt positiv
Prof. Boyland spricht sich aus für wirksame Richtlinien zur Regulierung der Vermarktung ungesunder Lebensmittel. Denn – auch das ergaben ihre Studien: Nachweislich positiv auf die Gesundheit von Kindern wirken restriktive Richtlinien zur Reduzierung des Ausmaßes der Vermarktung ungesunder Lebensmittel. Konkret empfehle die WHO Richtlinien, mit denen die Vermarktung jener Lebensmitteln eingeschränkt werden, die z.B. einen hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren haben und die viel freien Zucker enthalten.

Richtlinien sollten obligatorisch sein und Kinder jeden Alters schützen. Politisch getrieben sollten Lebensmittel klassifiziert werden, deren Vermarktung eingeschränkt werden soll – Stichwort Nährwertprofile.  

„Ergebnisse helfen uns sehr“
Unter starkem Applaus betrat dann Bundesernährungsminister Cem Özdemir das Podium, bedankte sich bei seiner Vorrednerin: „Das hilft uns sehr für unseren weiteren Kampf, vielen Dank dafür. Diese Argumente würde ich auch sehr gerne öfter in der deutschen Diskussion hören.“ Özdemir stellte im Frühjahr Pläne für ein Gesetz vor, das Beschränkungen für an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung verbindlich vorschreiben soll. Beispiel: keine Werbung zwischen 17 und 22 Uhr für Lebensmittel, die nicht dem Nährwertprofil der WHO entsprechen (wir berichteten). Seitdem wird nicht nur diskutiert – auch Schreckensszenarien werden gezeichnet – so war aus Bayern zu hören, mit Özdemir gibt’s nur noch „ein Rädle Wurscht“ pro Tag. Und von Uli Hoeneß: „Özdemir nimmt mir den Zucker aus dem Kaffee!“ Özdemir: „Jeder und jede kann hierzulande essen und trinken, wie er oder sie das möchte. Aber nicht jeder, der sich ungesund ernährt und jede, die sich ungesund ernährt, möchte es auch. Oder tut das aus freien Stücken.“

Was geht das den Staat an?
Wenn 15 % der Kinder in Deutschland übergewichtig sind und 6 % sogar adipös, wenn also bis zu 2 Mio. junge Menschen solche Probleme haben, oft ein Leben lang: „Da kann mir dann niemand mehr sagen, dass es den Staat nichts angehen würde. Wenn das den Staat nichts angeht, dann frage ich mich, wofür es den Staat gibt?“ Wobei: „Essen und Gesundheit ist natürlich immer auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Übergewicht entwickeln Kinder oft in Familien, die von Armut stärker betroffen sind, und in armutsgefährdeten Haushalten. Wo die Tische eben nicht so vielfältig gedeckt sind. Wo mehr auf den Teller kommt, was schneller satt macht. Wo Eltern zuweilen mit dem Thema gesunde Ernährung überfordert sind.“ Auch er habe als Kind jahrelang seine 1,60 Mark pro Tag vor allem in Pommes und „rote Wurscht“ investiert, einen gedeckten Tisch gab es nicht, da beide Eltern berufstätig waren: „Das ist aber nicht die Art, wie ein Kind aufwachsen sollte.“

Besuch in Adipositas-Ambulanz
Cem Özdemir besuchte dieses Jahr die Adipositas-Ambulanz der Charité für Kinder, „um mich aus erster Hand zu informieren. Und ich sage Ihnen: Das hat mich sehr betroffen gemacht.“ Nur ein Bruchteil der Kinder, so Özdemir, die es eigentlich nötig hätten, können dort betreut werden. „Jeder, der in diesem Land Verantwortung trägt, muss sich daran messen lassen, die Perspektiven der Kinder zu verbessern. Und zwar ungeachtet aller Widerstände, mit denen wir dabei konfrontiert sind.“

Im besten Fall sorge man dafür, „dass Kinder gar nicht erst Übergewicht entwickeln.“ Dafür tragen die Eltern ihre Verantwortung, „aber eben auch die gesamte Gesellschaft und auch wir als Staat.“ Deshalb habe die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen, „dass wir an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung einschränken wollen.“ 

Özdemir: „Dauert mir zu lang“ 
Der Stand hier: Der vorgelegte Gesetzentwurf habe in der Zwischenzeit ein paar Anpassungen erlebt aufgrund vereinbarter Kompromisse: „Aber das Ziel, um das sehr deutlich zu sagen, das ist nicht verhandelbar: Alle Kinder müssen die Chance haben, gesund groß zu werden. Möglichst unabhängig von ihrer Herkunft, möglichst unabhängig davon, ob reich oder arm, Akademiker oder nicht, deutscher oder sonstiger Herkunft.“ Kinder schützen, Eltern stärken – das sei die Devise. „Noch steckt der Entwurf in der Ressort-Abstimmung, manch einem dauert es zu lang. Dem Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft dauert es auch zu lang.“ 

„Bringen Sie sich weiterhin ein“
Zum Schluss ein Appell des Ministers: „Bringen Sie sich bitte weiterhin mit Ihrem geballten Wissen, mit Ihrer großen Glaubwürdigkeit in die Debatte ein. In Ihren Praxen und gerne natürlich darüber hinaus. Es werden viele Infos verbreitet, das kann verwirren – und deshalb braucht’s Orientierung: deshalb braucht es Sie!“ Der Minister möchte, dass weiter gemeinsam hart an dem Thema gearbeitet wird. Er sprach von einem „harten Ringen in dem Wissen, dass es wohl kein Sprint ist, sondern ein Marathon“. 

Gegenargumente widerlegt
Oliver Huizinga (AOK-Bundesverband seit 1. Dezember, ehem. Deutsche Adipositas-Gesellschaft sowie DANK) präsentierte die Ergebnisse eines Faktenchecks: Was ist dran an Kritikpunkten der Werbe- und Ernährungsindustrie wie: fehlende Evidenz dafür, ob Werbung überhaupt verantwortlich ist für Übergewicht? Ob Werbebeschränkungen überhaupt wirken? Die Medienfinanzierung sei in Gefahr, weil für den allergrößten Teil der Lebensmittel nicht mehr geworben werden darf? 

Ergebnis des Checks: Die zentralen Argumente halten einer fachlichen Überprüfung nicht stand, mitunter handele es sich um Falschaussagen. Fachorganisationen und Wissenschaft, siehe Professor Boyland, sind sich einig, dass umfassende Werbebeschränkungen wichtige Bausteine gegen ernährungsbedingte Krankheiten sind. 

Günter Nuber

Diabetes Herbsttagung 2023