„Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter wirken sich negativ auf die Gesundheit der Heranwachsenden aus. So begünstigt ein hoher Body-Mass-Index (BMI) Störungen des Fett- und Glukosestoffwechsels, was die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines Typ-2-Diabetes erhöht“, so Professor Dr. med. Martin Wabitsch, Tagungspräsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. „Zudem gehen Übergewicht und Adipositas mit einem hohen Leidensdruck einher“, ergänzt Wabitsch. Bereits im Kindesalter werden Menschen mit Übergewicht stigmatisiert, das setzt sich im Jugend- und Erwachsenenalter fort. „Betroffene sind tagtäglich Diskriminierung ausgesetzt – in der Familie, am Arbeitsplatz, in den Medien und leider auch im Gesundheitssystem. Unzulässige Zuschreibungen lauten oft: ‚fett, faul und gefräßig‘ sowie ‚charakter- und willensschwach‘“, sagt der Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Ulm. „Diese Vorurteile sind häufig auch ein Hindernis beim Einstieg in die Berufswelt. Bei der Einstellung werden junge Heranwachsende aufgrund ihres Äußeren oftmals benachteiligt – und dies bei gleicher oder gar höherer fachlicher Qualifikation.“
Die Abwertung und soziale Ausgrenzung, die Menschen mit starkem Übergewicht häufig erfahren, haben oft auch psychische Störungen zur Folge. „Viele Betroffene haben ein geringes Selbstwertgefühl und leiden an Depressionen“, so Stefanie Wirtz, 1. Vorsitzende der AdipositasHilfe Deutschland e. V. Teilweise entwickele sich aus der Stigmatisierung ein wahrer Teufelskreis: „Viele Menschen reagieren auf psychische Belastungen mit einem ungünstigen Essverhalten – dem sogenannten ‚Frustessen‘. Das wiederum führt zur Gewichtszunahme und somit zur Erhaltung und Verschlimmerung der Adipositas“, ergänzt Wabitsch.
Gerade bei Kindern und Jugendlichen liege die Schuld an einem zu hohen Körpergewicht nicht bei ihnen selbst. „Welches Körpergewicht ein Mensch hat, ist zunächst genetisch bedingt und wird in der frühen Kindheit geprägt“, so der Facharzt für Kinderheilkunde. „Die Lebensbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen, also ein überreichliches, zu fettes, zu süßes, zu salziges Angebot hoch verarbeiteter Lebensmittel sowie der weit verbreitete Bewegungsmangel unterstützen dann die Ausprägung der Adipositas und wirken sich ungünstig auf den Stoffwechsel aus.“ In betroffenen Familien komme es darüber hinaus häufig zu Konflikten. „Eltern versuchen zwar, ihren Kindern zu helfen, haben aber meist keine Anlaufstelle, um sich Unterstützung zu holen. Die Hilflosigkeit entlädt sich oft in Form von Vorwürfen und endet im Streit“, so Wirtz.
Jugendliche mit extremer Adipositas (BMI über 30) sind dann medizinisch nur noch schwer zu erreichen. „Nur ein kleiner Prozentsatz sucht aktiv nach einer Behandlung“, so Wabitsch. „Warum das so ist, ist nicht klar. Hierfür mag es viele Gründe geben, zum Beispiel das junge Alter der Betroffenen, ein überwiegend niedriges Bildungsniveau und ein niedriger Sozialstatus. Auch funktionelle Beeinträchtigungen infolge eingeschränkter körperlicher Mobilität und psychische Begleiterkrankungen können Ursache dafür sein. Häufig sind die Jugendlichen nach erfolglosen Versuchen des Abnehmens auch einfach frustriert“, sagt der Experte.
Die Behandlung von Jugendlichen mit extremer Adipositas ist sehr aufwändig und es bedarf neuer Wege. „Konventionelle verhaltenstherapeutische Gewichtsreduktionsprogramme bleiben meist erfolglos. Bariatrisch-chirurgische Maßnahmen sind aufgrund der notwendigen strengen Indikationsstellung oft nicht möglich“, so Wabitsch. Im Rahmen der JA-Studie, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Kompetenznetzes Adipositas seit 2012 fördert, wird deshalb für Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren mit einem BMI über 30 eine neue, umfassende Versorgung in fünf verschiedenen Kliniken in Deutschland angeboten. „Jugendliche mit extremer Adipositas nehmen über verschiedene Zugangswege – einschließlich sozialer Institutionen sowie medizinischer Behandlungseinrichtungen und Patientenregister – an dem Projekt teil“, erklärt Wabitsch. Im Rahmen der Studie werden die Jugendlichen auch dabei unterstützt, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden.
Welche Maßnahmen notwendig sind, um die Therapie von Kindern und Jugendlichen mit starkem Übergewicht zu verbessern und um der Stigmatisierung innerhalb der Gesellschaft entgegenzuwirken, erläutern die Teilnehmer der gemeinsamen DDG Herbsttagung und DAG Jahrestagung im Rahmen einer Kongress-Pressekonferenz am 9. November 2018 in Wiesbaden. Die Tagung findet vom 9. bis 10. November 2018 im RheinMain CongressCenter Wiesbaden statt. Alle Informationen zur Tagung sind im Internet unter www.herbsttagung-ddg.de zu finden.
Das können Journalisten und Medienschaffende tun, um Stigmatisierung/Diskriminierung von Adipositas und Menschen mit Übergewicht in den Medien zu vermeiden:
„Medienleitfaden Adipositas“ zum kostenlosen Download unter adipositas-gesellschaft.de/fileadmin/PDF/Presse/A5_DAG-MLF2018_NS_RZ_08102018.pdf
Quellen:
(1) Robert Koch-Institut: Die allgemeine Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/JoHM/2018/JoHM_Inhalt_18_01.html
(2) Jugendliche mit extremer Adipositas. Medizinische und psychosoziale Folgen der extremen Adipositas bei Jugendlichen – Akzeptanz und Wirkung einer strukturierten Versorgung: Die JA-Studie. www.ja-studie.de