Appell an neue Bundesregierung: Nachbesserungen in Versorgung und Prävention nötig
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, der Bundesverband Niedergelassener Diabetologen e.V. (BVND) und der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V. (VDBD) nehmen Stellung zum Koalitionsvertrag „Verantwortung für Deutschland“ von CDU/CSU und SPD. Sie begrüßen die angekündigten strukturellen Reformen in der Gesundheitsversorgung, vermissen jedoch klare Aussagen zur Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus. Auch eine strategische Perspektive fehle– insbesondere im Bereich Gesundheitsprävention, Versorgungssicherheit und Anerkennung von Gesundheitsfachberufen. Zugleich gratulieren die vier Verbände der designierten Bundesgesundheitsministerin Nina Warken zu ihrem zukünftigen Amt. Sie freuen sich auf eine konstruktive und produktive Zusammenarbeit – ganz im Sinne der über neun Millionen Menschen mit Diabetes in Deutschland.
„Im gesamten Koalitionsvertrag findet sich kein einziges Mal der Begriff ‚Diabetes‘ – das ist angesichts von 9 Millionen betroffenen Menschen in Deutschland und jährlich rund 500.000 Neuerkrankungen ein fatales Versäumnis“, kommentiert Professor Dr. med. Andreas Fritsche, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) aus Tübingen, das Regierungsprogramm der neuen Koalition.
Positiv bewertet die DDG die angekündigte Weiterentwicklung der Leistungsgruppen im stationären Bereich. Fritsche erklärt: „Unsere Vorschläge zur Anpassung der Leistungsgruppe 2 für komplexe Diabetologie und Endokrinologie wurden im zuständigen Ausschuss zur Kenntnis genommen. Das stimmt vorsichtig optimistisch.“
Dennoch überwiegt die Sorge, dass die Versorgung chronisch kranker Menschen in der Fläche weiter unter Druck gerät: „Der Koalitionsvertrag verspricht Sonderregelungen nur für wenige spezialisierte Kliniken. Wir brauchen aber eine flächendeckende Sicherung der qualitativ hochwertigen Versorgung – mit strukturierten Angeboten, zertifiziertem Personal und einer soliden Finanzierung.“ Das gelte besonders für ländliche Regionen, in denen die bloße Sicherstellung der Grundversorgung nicht ausreiche, um komplexe Erkrankungen wie Diabetes leitliniengerecht zu behandeln. Mindestens die DDG zertifizierten Abteilungen mit Ihrem Fachpersonal sollten erhalten bleiben, denn sie gewährleisten eine bessere Versorgung und geringere Krankenhaussterblichkeit von Menschen mit Diabetes.
Chancen der Digitalisierung nutzen – Prävention nicht länger vernachlässigen
Dr. med. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender vondiabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe aus Hamburg, begrüßt ausdrücklich die Ankündigung, die Rahmenbedingungen für Videosprechstunden, Telemonitoring und Telepharmazie zu verbessern: „Gerade für Menschen mit chronischen Erkrankungen kann dies – wenn sie professionell umgesetzt und von Fachkräften begleitet wird – ein echter Gewinn sein.“
Aber auch Kröger kritisiert, dass – anders als in Koalitionspapieren der Vorgängerregierungen – das Indikationsfeld Diabetes nicht einmal genannt wird: „Weder eine Nationale Diabetesstrategie noch konkrete Maßnahmen zur Prävention dieser chronischen Erkrankung finden sich im Regierungsvorhaben von CDU/CSU und SPD.“
Ambulante Versorgung stärken – statt sie weiter zu belasten
Toralf Schwarz, Vorsitzender desBundesverbands Niedergelassener Diabetologen e.V. (BVND) aus Zwenkau, warnt vor einer Überlastung des ambulanten Sektors: „Die Verlagerung von stationärer in die ambulante Versorgung kann nicht die Lösung aller Probleme sein. Wir brauchen sektorübergreifende Versorgungsmodelle – und deren Finanzierung muss gesichert sein.“
Kritisch bewertet Schwarz zudem das angekündigte Primärarztsystem: „Wenn es klare Schnittstellen gibt, kann das funktionieren. Aber ob dadurch Wartezeiten verkürzt oder Kosten gespart werden, ist fraglich.“ Er verweist auf die Bedeutung einer adäquaten Betreuung chronisch kranker Menschen: „Pauschalen für einfache Fälle können helfen, Ressourcen für Menschen mit komplexen Krankheitsbildern wie Diabetes freizumachen. Aber diese Mittel müssen gezielt eingesetzt werden.“
Gesundheitsfachberufe endlich einbinden – nicht ignorieren
Kathrin Boehm, Vorsitzende desVerbands der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V. (VDBD) aus Bad Mergentheim, zeigt sich enttäuscht über die unklare Rolle der Gesundheitsfachberufe im Koalitionsvertrag: „Die angekündigte Stärkung der Gesundheitsfachberufe ist wichtig – doch wir vermissen die gezielte Einbindung der Diabetesberatungsberufe. Diese müssen endlich in der Leistungsgruppe 2 der Krankenhausreform abgebildet werden. Unumgänglich ist auch, dass das Fachpersonal, das nicht direkt aus der Pflege kommt und seine Kompetenzen durch Weiterbildungen innerhalb des DQR-Anerkennungsverfahrens erworben hat, im Finanzierungskatalog der Reform berücksichtigt wird – das betrifft rund die Hälfte aller Diabetesberater*innen und Diabetesassistent*innen in Deutschland.“ Fallen diese Fachkräfte durch das Raster, stünde Menschen mit Diabetes ein massives Versorgungsproblem bevor.
„Statt eines Primärarztsystems brauchen wir ein Primärversorgungssystem, das im Sinne einer interprofessionellen Zusammenarbeit Gesundheitsfachberufe mit Kompetenzübertragungen und Verantwortlichkeiten sowie Telemedizin strukturell und finanziell einbindet. Nur so werden wir den demografischen Wandel bewältigen können“, fordert Boehm.
Mit Blick auf den Bürokratieabbau warnt Boehm vor Schnellschüssen: „Vereinfachung ist gut, aber sie darf nicht dazu führen, dass komplexe Versorgungslagen – wie bei Menschen mit Diabetes – durch starre Pauschalen oder ungeeignete Steuerungsinstrumente verschlechtert werden. “
Forderung der Verbände: Jetzt Kurskorrektur vornehmen!
Alle vier Verbände appellieren gemeinsam an die neue Bundesregierung, die Versorgung von Menschen mit Diabetes sowie die gesundheitliche Prävention konsequent in den politischen Fokus zu rücken. „Die politische Weichenstellung für die kommenden vier Jahre darf die Realität der chronisch Kranken nicht ignorieren“, so Schwarz. Besonders kritisch sehen die Verbände, dass Verhältnisprävention – also Maßnahmen, die gesundheitsförderliche Lebensverhältnisse schaffen – im Koalitionsvertrag keine Rolle spielt. „Wir vermissen verpflichtende Regelungen wie Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel, eine Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Getränke oder steuerliche Anreize für gesunde Ernährung – obwohl diese Maßnahmen kostengünstig wären und nachweislich wirken“, ergänzt Kröger.
Zwar finden sich an einigen Stellen Hinweise auf Prävention, etwa im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen oder Alltagsdrogen. Doch eine breite und systematische Strategie zur Prävention chronischer Krankheiten wie Diabetes mellitus und dessen Folgeerkrankungen fehlt vollständig. „Das ist eine vertane Chance – gerade angesichts der volkswirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Bedeutung dieser Erkrankungen“, betont Boehm.
Die Verbände fordern daher konkrete Nachbesserungen: eine nationale Präventionsstrategie mit klaren Zielen, die Verankerung verhältnispräventiver Maßnahmen, die Stärkung von allen Fachberufen in Versorgung und Prävention sowie eine gesicherte Finanzierung für qualitativ hochwertige Strukturen – ambulant wie stationär. „Was jetzt zählt, ist die Umsetzung – und die braucht einen klaren Fahrplan sowie die Einbindung der Fachgesellschaften und Berufsverbände“, stellt Fritsche abschließend klar.
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