Und was heißt das jetzt praktisch?

Prof. Dr. Andreas Fritsche zum DDG-Positionspapier „Differenzierung von Subgruppen in der Diabetologie“

Tübingen. Die Kommission Epidemiologie und Versorgungsforschung der DDG hat ein Positionspapier zur „Differenzierung von Subgruppen in der Diabetologie“ herausgegeben. Hintergrund sind zwei große Studien, in denen sich fünf Diabetes-Subtypen mit unterschiedlichen Risikoprofilen diskriminieren ließen (siehe Kasten).

Das Positionspapier klingt verhalten: Es sei noch viel Forschungsarbeit zu leisten und für praktische Konsequenzen sei es noch zu früh. Will man wirklich abwarten, bis die geforderten Langzeitstudien vorliegen?

Professor Dr. Andreas Fritsche: Das Positionspapier mag deshalb verhalten klingen, weil es sich um eine kritische Stellungnahme handelt. In der Kommission waren Experten unterschiedlicher Disziplinen – neben Praktikern auch eher theoretisch ausgerichtete Wissenschaftler – vertreten, sodass das Positionspapier unterschiedliche Perspektiven repräsentiert.

Zum Beispiel wurde von Epidemiologen und Klinikern zu Recht eine Bestätigung der Daten in weiteren Populationen gefordert. Ich persönlich bin aber auch dafür, dass wir möglichst versuchen sollten, die Differenzierung der verschiedenen Subtypen zügig für unsere praktische Arbeit zu nutzen. Was wir aber brauchen, sind prospektive Studien, die differenzierte Therapiestrategien bei den unterschiedlichen Subtypen prüfen.

Um das ganz klar zu sagen: Ich halte diese neue Einteilung für einen ganz wichtigen Fortschritt, der entscheidende Implikationen für die Diabetestherapie haben wird. Die neue Einteilung, die von einer sehr renommierten schwedischen Arbeitsgruppe vorgeschlagen wurde, hat sich in einer großen deutschen Studie bestätigt. Wir wissen ja schon lange, dass wir es beim Diabetes mellitus mit einem sehr heterogenen Kollektiv zu tun haben, aber es fehlte bislang eine valide Klassifikation als Basis für eine differenzierte Therapie.

Mit anderen Worten: Eine differenzierte Diabetestherapie findet bislang nicht statt?

Prof. Fritsche: Nein, eine differenzierte, pathophysiologisch orientierte Diabetestherapie findet – jenseits der Differenzierung Typ 1 und Typ 2 – bislang in der Regelversorgung nicht ausreichend statt. Im Versorgungsalltag ist Ausprobieren eine gängige Strategie. Wir müssen davon ausgehen, dass in der Folge dieses Vorgehens nicht wenige Patienten mit Diabetes unter- bzw. übertherapiert werden. Ein wichtiger Subtyp mit hohen Risiken für Folgekomplikationen ist der SIDD (severe insulin-deficient diabetes), eine Untergruppe des Typ- 2-Diabetes, für den ein ausgeprägter Insulinmangel charakteristisch ist. SIDD-Patienten entwickeln besonders häufig eine Retinopathie und/oder eine Polyneuropathie. Diese Patienten brauchen als Erstlinientherapie wahrscheinlich Insulin und sind damit ganz anders zu behandeln als SIRD (severe insulin-resistant diabetes).

Bislang jedoch wird die Insulinsekretion im Rahmen der Routineversorgung in aller Regel nicht bestimmt. Und das hat zur Folge, dass SIDD-Patienten oft erst mit oralen Antidiabetika – statt gleich mit Insulin – behandelt werden. Andererseits bekommen Patienten, die genug Eigeninsulin haben, eine Insulintherapie. Bei keiner anderen endokrinologischen Erkrankung würde man so vorgehen und eine Therapie ohne vorherige Bestimmung des Hormonstatus beginnen. Eine routinemäßige Bestimmung der endogenen Insulinsekretion wäre praktisch gar kein Problem, denn man braucht dafür nur eine Blutabnahme im Nüchternzustand.

Wäre es vor diesem Hintergrund nicht sinnvoll, die erforderlichen Studien auf den Weg zu bringen, gleichzeitig aber vielleicht doch schon die neuen Erkenntnisse – quasi als fundierte Arbeitshypothese – im Land zu verbreiten. Sie sagen ja selbst, es gibt einiges an Evidenz für die neue Einteilung, und wäre da eine Orientierung an diesem Raster nicht vielleicht besser als eine undifferenzierte Therapie?

Prof. Fritsche: Das würde ich so unterschreiben.

Was konkret ließe sich denn aus der Subtyp-Differenzierung für die Therapie ableiten?

Prof. Fritsche: Ein entscheidender Aspekt mit therapeutischen Implikationen sind die unterschiedlichen Risiken der verschiedenen Subtypen. Hochrisikogruppen sind SIDD und SIRD. SIDD hat ein besonders hohes Risiko für Retinopathie und Neuropathie. SIRD-Patienten sind besonders gefährdet, eine Nephropathie sowie eine nicht alkoholische Fettleber zu entwickeln. Natürlich sollte man die Niere bei Diabetespatienten grundsätzlich im Auge behalten, aber bei SIRD-Patienten sind regelmäßige Kontrollen auf Anzeichen einer Nephropathie und eine gute Blutdruckeinstellung besonders wichtig. Die Insulinresistenz stellt offenbar einen eigenen Risikofaktor für die diabetische Nephropathie dar. Das hat sich schon in früheren Arbeiten abgezeichnet und sollte angesichts der neuen Daten stärker ins Bewusstsein rücken.

Und wie erklärt sich das hohe Risikovon SIDD-Patienten, während SAID-Patienten relativ wenige Folgekomplikationen aufweisen?

Prof. Fritsche: Das ist eine spannende Frage, die wir aber bislang nicht beantworten können. SIDD sind Typ-2-Diabetespatienten mit ausgeprägtem Insulinmangel und einer leichten Insulinresistenz. Abgesehen von den fehlenden GAD-Antikörpern weist der SIDD-Subtyp große Ähnlichkeiten auf mit SAID als dem klassischen Typ-1-Diabetes. Alter, HbA1c und BMI sind ähnlich, die Rate an Folgekomplikationen jedoch ist sehr unterschiedlich. Es muss ein SIDD-Merkmal geben, das für das hohe Risiko dieser Patienten verantwortlich ist, das wir aber offenbar noch nicht kennen. Es könnte auch sein, dass SIDD zu spät mit Insulin behandelt werden und deswegen eher Folgeerkrankungen entwickeln.

Die treffsichere Identifizierung und adäquate Therapie von Hochrisikopatienten ist ein wichtiger Aspekt der Subtyp-Differenzierung. Ein anderer Aspekt wäre die Vermeidung einer Überversorgung. In der schwedischen Studie wurden rund zwei Drittel aller Diabetesfälle als leichter alters- oder adipositasbedingter Diabetes klassifiziert. Wäre es eventuell gerechtfertigt, bei diesen Patienten die aktuellen strikten Therapieempfehlungen zu lockern?

Prof. Fritsche: Das ist ein heißes Eisen. Aber ich würde sagen: Ja, Patienten mit mildem Diabetes, die laut den Subgruppen-Studien nachweislich weniger Folgekomplikationen haben, brauchen weniger Therapie. Ob das nun zwei Drittel der Patienten sind, wie es sich in der schwedischen Studie darstellt, sei dahingestellt. Ich würde schätzen, etwa die Hälfte aller Patienten leidet an einer milderen Diabetesform.

Bei solchen Patienten versuche ich immer, die Therapie zu deeskalieren. Man darf natürlich mit dem Begriff „milder Diabetes“ die Erkrankung nicht bagatellisieren. Wir haben ja immer noch damit zu kämpfen, dass der Diabetes unterschätzt und nicht ernst genommen wird. Aber auch da müssen wir eben differenzieren. Jeder diabetologisch tätige Arzt weiß aus eigener Erfahrung, dass es schwer kranke Patienten mit hohen Risiken bzw. ausgeprägten Folgekomplikationen gibt. Aber es gibt eben auch milder verlaufende Formen mit geringeren Risiken. Wichtig ist, klare Kriterien an der Hand zu haben, mit denen sich die Risikopatienten und die weniger gefährdeten Diabetespatienten treffsicher identifizieren lassen. Und auf dieser Basis kann und sollte dann eine differenzierte Therapie erfolgen.

Interview: Ulrike Viegener

1. www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/ ueber-uns/ausschuesse-und-kommissionen/ kommission-epidemiologie-und-versorgungsforschung. html

2. Ahlqvist E et al. Lancet Diabetes Endocrinol. 2018; 6: 361-369

3. Zaharia OP et al. Lancet Diabetes Endocrinol. 2019; 7: 684-694


Die fünf Diabetes-Subtypen

  • SAID (severe autoimmune diabetes): früher Krankheitsbeginn, niedriger BMI, Insulinmangel, GADA-positiv, schwierige metabolische Einstellung (7 % des schwedischen Studienkollektivs)
  • SIDD (severe insulin-deficient diabetes): GADA-negativ, sonst wie Gruppe 1(18 %) 
  • SIRD (severe insulin-resistant diabetes): ausgeprägte Insulinresistenz, hoher BMI (15 %) 
  • MOD (mild obesity-related diabetes): Adipositas ohne ausgeprägte Insulinresistenz (22 %)
  • MARD (mild age-related diabetes): höheres Alter, leichte Stoffwechselstörung (39 %)