8760 Stunden auf sich allein gestellt

Patienten profitieren von Diabetesschulungen in vielerlei Hinsicht

Genf. Strukturierte Schulungen können helfen, die Krank­heitslast bei Typ-2-Diabetes sowie das Risiko für Folgeerkrankungen zu verringern. Doch obwohl sie fast überall zum empfohlenen Therapiealgorithmus zählen, erreichen sie nur eine Minderheit der Patienten.

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In vielerlei Hinsicht ist Typ-2-Dia­betes ein Paradebeispiel für den immensen Effekt von chronischen Erkrankungen: Weit verbreitet, geht mit großen persönlichen Belastungen sowie einem hohen Risiko für Folgeerkrankungen einher – und er spricht gleichzeitig gut auf eine breite Bandbreite therapeutischer Interventionen an. Damit diese anschlagen, bedarf es allerdings strukturierter Schulung. „Am Ende sind Patienten selbst verantwortlich für das Management ihrer Erkrankung“, erklärte Professor Dr. Simon­ Heller­, Diabetologe an der University of Sheffield. „Die meisten von ihnen haben pro Jahr nur etwa sechs Stunden Kontakt mit ihrem Diabetesteam. In den verbleibenden 8760 Stunden kümmern sie sich allein um ihren Diabetes.“

Die Liste der Aufgaben, die sie eigenverantwortlich bewältigen müssen, ist lang, z.B.

  • Blutzucker messen und dokumentieren,
  • Medikamente und Insulin anpassen,
  • Ernährungsempfehlungen einhalten,
  • regelmäßig bewegen,
  • diverse Kontrolltermine wahrnehmen,
  • eigenständige Fußinspektionen,
  • Rauch- und Alkoholverzicht.

„Addiert man das zusammen, kommt man leicht auf zwei Stunden Dia­betesmanagement pro Tag“, meinte Prof. Heller.

Damit diese Aufgaben in Fleisch und Blut übergehen, braucht es nicht nur eine einmalige Belehrung. „Es gibt Evidenz für bessere Therapieergebnisse, wenn Patienten an strukturierten Schulungen teilnehmen, sowohl was HbA1c als auch die Lebensqualität angeht.“ Daneben sei erwiesen, dass die Programme auf lange Sicht Geld sparen. „In Großbritannien sind sie sogar vorgeschrieben. Sie nicht anzubieten, ist also ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht.“

Um den Effekt von Schulungsmaßnahmen einzuschätzen, bietet sich die glykämische Kontrolle als Parameter an, führte der Referent aus. Schon seit der UK-PDS-Studie und deren Follow-up-Untersuchungen sei bekannt, dass eine Reduktion des HbA1c-Werts mit verringerten Risiken für jegliche diabetesbezogenen Endpunkte einhergeht, insbesondere mit dem Risiko für Herzinfarkt und mikrovaskuläre Veränderungen. In verschiedenen Studien konnte man bereits Ende der 1990er Jahre zeigen, dass sich eine Patientenschulung positiv auf die glykämische Kontrolle und kardiometabolischen Risikofaktoren auswirkt.

Als Beispiel nannte Prof. Heller PEDNID-LA. Darin hatte man in zehn lateinamerikanischen Ländern die Effekte eines strukturierten Schulungsprogramms an 446 Patienten mit Typ-2-Diabetes untersucht. Die vier einmal wöchentlichen Unterrichtseinheiten, bei denen die Teilnehmenden zu Blutglukoseselbstmessung, den Vorteilen einer Gewichtsreduktion, Fußinspektion sowie körperlicher Aktivität geschult wurden, wirkten sich positiv auf Nüchternblutzuckerwerte, HbA1c, Körpergewicht, Blutdruck und Blutfette aus. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Forschende in Kalifornien, wo man den Effekt von Gruppenschulungen auf die glykämische Kontrolle und die Hospitalisierungsrate untersuchte.

Ohne Schulungen fallen die Werte schlechter aus
Allerdings seien viele der vorhandenen Studien schwer miteinander zu vergleichen, da sich der klinische Benefit nicht allein auf Schulungen, sondern auch auf medikamentöse Intervention zurückführen lasse, bedauerte Prof. Heller. Als aussagekräftig stufte er allerdings eine Metaanalyse aus 2004 zum Effekt strukturierter Präsenzschulungen auf den HbA1c-Wert ein, in der die Daten von insgesamt 2439 Patienten untersucht wurden. Dabei kam man auf einen Abfall von durchschnittlich 0,32 Prozentpunkte. „Das ist kein großartiges Ergebnis. Aber trotzdem können wir eindeutig sagen, dass die Werte nach strukturierter Schulung besser ausfallen als unter der Standardtherapie ohne Schulung“, so Prof. Heller.

Eines der Hauptprobleme adressierte er an die vermeintlich mangelnde Bereitschaft vieler Patienten, an der Maßnahme teilzunehmen. In Großbritannien seien dies nicht einmal 15 %. Bereits die beiden deutschen Schulungspioniere Professor Dr. Michael­ Berger­ und Professor Dr. Ingrid­ Mühlhauser­ hätten es im Jahr 1993 als seltsam bezeichnet, „dass Diabetesschulungen nicht verpflichtend, sondern optional und unstrukturiert“ seien. Ihnen zufolge sei es „unsinnige Praxis, Patienten mit der frustrierenden Aufgabe der Blutzuckerselbstmessung zu belästigen, ohne sie zu befähigen, die Mess­ergebnisse zu interpretieren und darauf zu reagieren“. Der Referent sieht daher die Hauptaufgabe darin sicherzustellen, dass strukturierte Schulungen nicht nur angeboten, sondern auch in Anspruch genommen werden.

Antje Thiel

ATTD 2021