Zweites Leben mit Nebenwirkung
HANNOVER/BAD HEILBRUNN. Nach einer Organtransplantation entwickelt etwa ein Drittel der Patient*innen eine gestörte Glukosetoleranz oder sogar einen manifesten Diabetes. Die Ursachen liegen in einer komplexen Wechselwirkung aus Stoffwechsel, Immunsuppression und individueller Prädisposition. Für die Betroffenen bedeutet die Diagnose oft einen zusätzlichen Einschnitt - und zwar sowohl in medizinischer wie auch in psychischer Hinsicht.
Als Alexander Kales im Oktober 2014 eine neue Lunge erhielt, war das der Beginn eines zweiten Lebens. „Ich war vorher infolge meiner Mukoviszidose so schwach, dass ich mir kaum noch die Zähne putzen konnte. Morgens wusste ich nicht, ob ich den Abend noch erleben werde", erinnert sich der heute 41-Jährige aus Hannover. Der Eingriff verlief gut - doch noch im Krankenhaus, drei Wochen nach der Operation, erhielt er eine neue Diagnose: Diabetes. „Eine Schwester kam mit einer Nierenschale ins Zimmer, in der ein Insulinpen lag, ohne große Erklärung."
Tatsächlich tritt bei rund 10 bis 40% der Transplantierten ein Posttransplantationsdiabetes mellitus (PTDM) auf. Das Risiko ist besonders hoch bei älteren, übergewichtigen oder bereits vorbelasteten Patientinnen - und es steigt mit der Intensität der Immunsuppression. Kortison, Calcineurin-Inhibitoren und mTOR-Blocker beeinflussen sowohl die Insulinsekretion als auch die Insulinempfindlichkeit, sodass der Glukosestoffwechsel bei vielen Patientinnen unmittelbar nach der Operation entgleist.
Hohe Diabetes-Dunkelziffer vor Transplantation
„Direkt postoperativ haben sogar etwa 70 % der Transplantierten erhöhte Zuckerwerte", sagt Dr. Marc Albersmeyer von der m&i-Fachklinik Bad Heilbrunn.¹ Einen verbindlichen Biomarker, der früh erkennen ließe, bei wem der Zucker entgleist, gibt es bislang nicht.
Und auch die PTDM-Inzidenzzahlen sind durchaus mit Vorsicht zu genießen, denn viele Patient*innen haben bereits vor der Transplantation eine unentdeckte diabetische Stoffwechsellage. „Eine norwegische Studie an Wartelistenpatienten hat gezeigt, dass 8 % einen bislang unbekannten Diabetes und 37 % einen Prädiabetes hatten", berichtet Dr. Albersmeyer.²
Dennoch findet selbst nach einer Organtransplantation nicht flächendeckend ein Diabetes-Screening statt: „Nach einer Transplantation passieren sehr viele komplexe Dinge gleichzeitig. Hauptaufgabe der Zentren ist es zu überwachen, dass das Spenderorgan nicht abgestoßen wird, gut durchblutet und versorgt ist." Alles andere erscheint schnell als „Nebenschauplatz" - vor allem, wenn die Transplantationszentren mit knappen Ressourcen haushalten müssen.
Diabetes kann das Transplantat gefährden
Dabei ist ein frühzeitiges Screening entscheidend, wie Dr. Albersmeyer betont: „Diabetes ist nicht nur ein Stoffwechselproblem, sondern gefährdet auch das Transplantat." Studien weisen auf ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen und möglicherweise auch für Transplantatverlust hin. Eine strukturierte Rehabilitation, wie sie in der Fachklinik Bad Heilbrunn und einer Handvoll weiterer Rehabilitationskliniken in Deutschland angeboten wird, trägt dazu bei, diese Risiken zu senken.
Goldstandard zur Diagnose eines PTDM ist der orale Glukosetoleranztest (OGTT). Die Nüchternglukose hingegen ist häufig wenig aussagekräftig, da bei einem Großteil der Patient*innen der Blutzuckerwert erst im Laufe des Tages steigt. Der HbA1c-Wert wiederum ist - zumindest bei Menschen nach Nierentransplantation - durch die vorangegangene Dialyse häufig verfälscht.
Eine internationale Konsensusgruppe empfiehlt, den oGTT frühestens 45 Tage nach der Transplantation durchzuführen, weil bis dann oft noch hoch dosiert Kortison gegeben wird, das den Blutzuckerspiegel in die Höhe schnellen lässt.³
Frühe Insulintherapie schützt die Inselzellen
In dieser akuten Phase nach der Transplantation sollten hohe Glukosewerte vorrangig mit Insulin gesenkt werden, um die Inselzellen zu entlasten. „Ich bin sehr großzügig mit einer frühen Insulingabe, damit die Betroffenen eine Chance haben, sich eine gewisse Pankreasreserve zu erhalten", erklärt Dr. Albersmeyer. Dieses Vorgehen wird auch durch randomisierte Studien gestützt, die eine geringere PTDM-Inzidenz bei früher Insulingabe zeigen.⁴
Manifestiert sich ein PTDM erst im späteren Verlauf nach Transplantation, lässt er sich in der Regel klinisch kaum von einem Typ-2-Diabetes unterscheiden. „Dann sollte er auch wie ein Typ-2-Diabetes behandelt werden", sagt der Nephrologe und Diabetologe. Entsprechend gilt auch beim PTDM ein gesunder Lebensstil mit ausreichender körperlicher Aktivität als Basis der Diabetestherapie.
Organtransplantation in Deutschland
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Medikamentös kommen zumeist orale Antidiabetika zum Einsatz: Hierbei gelten DPP4-Inhibitoren aufgrund ihrer guten Verträglichkeit als Standardantidiabetikum nach Transplantation. Doch auch die Gabe von Metformin ist bei ausreichender Nierenfunktion möglich. Neuere Substanzen wie GLP1-Rezeptoragonisten und SGLT2-Hemmer werden ebenfalls zunehmend eingesetzt - mit ähnlichen positiven Effekten wie beim Typ-2-Diabetes und ohne erhöhte Komplikationsraten.
Organerhalt hat immer oberste Priorität
„Natürlich hat bei allen Entscheidungen der Organerhalt oberste Priorität", betont Dr. Albersmeyer. Anpassungen der Immunsuppression allein zur Senkung des Diabetesrisikos seien nur äußerst selten vertretbar, federführend sei grundsätzlich immer das zuständige Transplantationszentrum.
Für Alexander Kales war die Diabetesdiagnose kein Schock. „Man ist als Transplantationspatient sehr leiderprobt. Aufgrund der Immunsuppression sind Folgeerkrankungen ein Stück weit Normalität. Da ist die Diagnose Diabetes nichts, das einen völlig umhaut." Trotzdem ist sein Alltag anspruchsvoll: „Der Zucker hängt stark vom Kortisonspiel ab - das macht die Einstellung schwierig." Mit einem CGM-System konnte er seine Werte stabilisieren und seine Lebensqualität verbessern. Aus Gesprächen mit anderen Organtransplantierten weiß Kales aber auch, dass die Diabetesdiagnose vielen große Sorgen bereitet - vor allem, weil sie oft nur als „Nebenbefund zwischen Tür und Angel" mitgeteilt wird. Dr. Albersmeyer bestätigt das: „Viele sind verunsichert und überfordert, weil sie ohnehin noch viele Fragen haben - etwa, was sie nach der Transplantation essen dürfen, um die Keimlast möglichst gering zu halten." Wie gut Menschen die zusätzliche Diagnose annehmen, habe viel mit der patienteneigenen Geschichte und Resilienzfaktoren zu tun, aber auch mit der Qualität der Nachbetreuung.
Versorgung am besten aus einem Guss
Bei Nierentransplantierten wird die Versorgung meist von nephrologischen Praxen übernommen, von denen viele mittlerweile Diabetolog*innen beschäftigen. „Da laufen Nachbetreuung und Diabetestherapie im Alltag relativ nahtlos", berichtet Dr. Albersmeyer. Andere müssen sich nach der Reha eine Diabetespraxis suchen und haben damit eine weitere Anlaufstelle mit regelmäßigen Kontrollterminen zu managen. „Meiner Erfahrung nach läuft es umso besser, wenn die Behandlung aus einem Guss ist, mit kurzen Wegen und Absprachen."
Auch Kales wünscht sich mehr interdisziplinäres Denken im Medizinbetrieb. „Vor allem die Unikliniken sind stark in ihre Spezialdisziplinen unterteilt. In den Transplantationszentren ist man bemüht, die Rundumsicht auf den Patienten zu haben. Aber natürlich liegt der Fokus auf dem Transplantat."
Antje Thiel
Literatur:
Albersmeyer M et al. Nephrologe 2020; 15: 259-267; doi: 10.1007/s11560-020-00436-4
Bergrem AH et al. Clin J Am Soc Nephrol 2010; 4: 616-622; doi: 10.2215/CJN.07501009
Sharif A et al. Nephrol Dial Transplant 2024; 39: 531-549; doi: 10.1093/ndt/gfad258
Hecking M et al. J Am Soc Nephrol 2012; 4: 739-749; doi: 10.1681/ASN.2011080835