„CGM-Werte erzählen nicht die ganze Geschichte“
BERLIN. CGM-Daten gelten als objektive Messgröße im Diabetesmanagement. Doch die subjektive Interpretation bzw. Wahrnehmung der Glukose kann losgelöst von den tatsächlichen CGM-Daten sein. Sie wirkt sich ebenfalls auf das Erleben klinischer Symptome aus - und auf das Ausmaß an diabetesbezogener Belastung.
Menschen mit Diabetes denken pro Tag im Schnitt 77 Minuten lang an ihren Diabetes, ihre Stoffwechselerkrankung ist also alle etwa 12 Minuten in irgendeiner Form Thema für sie. Das hat eine Studie des Online-Befragungsportals Dialink ergeben.¹ Diese permanente Präsenz der Erkrankung kann zu Diabetes-Disstress führen, erklärte Privatdozent Dr. Dominic Ehrmann vom FIDAM Forschungszentrum Diabetes-Akademie Bad Mergentheim. „Etwa ein Drittel aller Menschen mit Diabetes berichten über Diabetes-Disstress - und das ist durchaus ein klinisches Problem, weil Diabetes-Disstress ein Risikofaktor für schlechtere Lebensqualität, Depression und suboptimale glykämische Kontrolle ist."
Sorgen wegen Schwankungen auf Spitzenplatz
Dr. Ehrmann plädierte daher dafür, auch objektivierbare Glukosedaten aus der psychosozialen Perspektive zu betrachten: „Natürlich ist Diabetestechnologie ein wahnsinnig tolles Tool, um die Diabetesbelastung zu reduzieren. Gleichzeitig führt sie aber auch zu neuen Belastungen." Etwa weil man Glukoseschwankungen mitbekommt, die mit punktuellen Blutzuckermessungen gar nicht sichtbar gewesen wären.
Tatsächlich belegen Sorgen wegen Glukoseschwankungen mit über 20% einen Spitzenplatz unter den vielen Belastungsquellen von Menschen mit Diabetes - gleich nach den im Tagesverlauf erforderlichen Therapieentscheidungen, die rund 40% der Überlegungen ausmachen.
„Erst viel später kommen Hypoglykämien oder die Angst vor Folgeerkrankungen, von denen wir immer dachten, dass sie die Hauptbelastungsquelle darstellen", erklärte Dr. Ehrmann. Auffällig sei, dass oft sogar diejenigen sich weniger Glukoseschwankungen wünschen, deren Ambulantes Glukose-Profil (AGP) eine völlig unbedenkliche Glukosevariabilität aufweist.
Um besser vorhersehen zu können, welche Aspekte der Diabetestherapie bei welchen Menschen mit Stress einhergehen, hat man im Rahmen weiterer Beobachtungsstudien Menschen mit Diabetes in einer Tagebuch-App mehrfach täglich Angaben zu ihrem subjektiven Erleben bzw. Diabetes-Disstress machen lassen - Ecological Momentary Assessment (EMA) - und diese Daten dann zu den parallel dazu erhobenen CGM-Daten in Relation gesetzt.²,³ „Die Paarung von CGM und EMA ist sehr spannend, denn sie zeigt uns die subjektive Glukoseempfindung", sagte Dr. Ehrmann. Bei manchen der Teilnehmenden schwankte die Glukose, die Stimmung blieb aber stabil. Bei anderen hingegen wies die Stimmungskurve ähnliche Ausschläge auf wie der Glukoseverlauf.
| Guter Schlaf senkt Risiko für Depression und Disstress Auch die Schlafqualität wirkt sich auf das subjektive Empfinden aus. So beeinträchtigen nächtliche Glukoseschwankungen, sowohl in der hyper- als auch hypoglykämischen Bandbreite, nachweislich den Schlaf. Gleichzeitig ist eine bessere subjektive Schlafqualität ein signifikanter Prädiktor für gute Stimmung und psychisches Wohlbefinden am Folgetag: „Mit jedem Punkt, um den die Schlafqualität ansteigt, sehen wir eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür, dass keine Depression und Disstress auftreten", betonte Prof. Hermanns. Insgesamt wird deutlich: Die Berücksichtigung individueller - auch subjektiv empfundener - Symptomprofile eröffnet neue, differenziertere Einblicke in das Erleben von Diabetes. Sie kann helfen, Therapieentscheidungen stärker am tatsächlichen Belastungserleben der Betroffenen auszurichten - jenseits von Parametern wie HbA1c, Zeit im Zielbereich oder Glukosevariabilität. |
Subjektive Interpretation entscheidend
Personalisierte Stressprognosen, so Dr. Ehrmann, könnten dabei helfen, Menschen mit Diabetes gezielter zu unterstützen. Wenn der Diabetes-Disstress durch eine messbar ungünstige Stoffwechsellage getrieben wird, seien Therapieanpassungen sinnvoll. „Wenn er hingegen eher von subjektiven Erwartungen und Interpretationen herrührt, sollte man in Schulungen an dieser Reflexion arbeiten", meinte der Psychologe. Diese Sichtweise wird durch Ergebnisse aus der HypoRESOLVE-Studie untermauert: Dort zeigte sich, dass von den Betroffenen berichtete Hypoglykämien einen deutlich stärkeren Einfluss auf Stimmung, Energielevel und kognitive Leistungsfähigkeit haben als Hypoglykämien, die nur im CGM detektiert wurden.⁴ Dr. Ehrmanns Fazit: „CGM-Werte erzählen nicht die ganze Geschichte, stattdessen sollte der Mensch im Mittelpunkt stehen." Dessen subjektive Interpretation bzw. Wahrnehmung der Glukosewerte könne nämlich losgelöst von messbaren CGM-Werten sein und sich auf die Entwicklung von Diabetes-Disstress auswirken.
Hypo-Symptome hängen nicht nur von Glukosewerten ab
Sein Kollege Professor Dr. Norbert Hermanns, ebenfalls vom Diabetes Zentrum Mergentheim, präsentierte Daten aus einer aktuellen Studie, in der auf der Basis von EMA- und CGM-Daten von knapp 400 Teilnehmenden Subgruppen mit bestimmten Symptomprofilen gebildet worden waren.⁵ Zu den abgefragten Symptomen zählten zum Beispiel Konzentrationsprobleme, Durst, Harndrang, Heißhunger, Zittern oder Übelkeit. Das Ziel der Studie war es, individuelle Muster und Cluster zu ermitteln.
„Wir konnten zeigen, dass Symptome nicht nur von Glukosewerten, sondern auch von Faktoren wie Alter, Diabetestyp, Geschlecht, BMI, Komorbiditäten oder psychischer Verfassung abhängen", erklärte Prof. Hermanns.
Als ein zentraler Verstärker habe sich Depressivität herausgestellt: „Sie beeinflusst nahezu alle Symptome signifikant. Menschen mit erhöhter Depressivität nehmen fast alle Beschwerden intensiver wahr", so Prof. Hermanns.
Antje Thiel
Diabetes Kongress 2025
Literatur
Priesterroth LS et al. J Diabetes Sci Technol 2025 May; 19(3): 830-835; doi: 10.1177/19322968231214271
Ehrmann D et al. Diabetologia 2024 Nov; 67(11): 2433-2445; doi: 10.1007/s00125-024-06239-9
Ehrmann D et al. Diabetes Care 7 July 2022; 45(7): 1522-1531; doi: 10.2337/dc21-2339
Carlton J et al Diabetologia 2024; 67: 1536-1551; doi: 10.1007/s00125-024-06182-9
Hermanns, N et al. Diabetes Obes Metab 2025; 27(1): 61-70; doi: 10.1111/dom.15983