»Diabetologie als Vorreiter in der Medizin?«

Prof. Dr. Bernd Kulzer zu Diabetes, Depression und Digitalisierung

BAD MERGENTHEIM.  Menschen mit Diabetes mellitus haben ein doppelt so hohes Risiko für eine Depression. Ist die Diagnose gestellt, dauert es oft viel zu lange, bis die passende psychotherapeutische Hilfe gefunden wird. Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernd Kulzer (Bad Mergentheim) ist 1. Vorsitzender der AG Diabetes & Psychologie der DDG. Wir sprachen mit ihm über Häufigkeiten und die Rolle, die digitale Gesundheitsanwendungen spielen können bei Diabetes und Depression. 

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Wie viele Menschen mit Diabetes mellitus haben depressive Verstimmungen bzw. eine depressive Symptomatik – im Vergleich zur Normalbevölkerung?
Prof. Dr. Bernd Kulzer:
Menschen mit Diabetes haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein etwa zwei- bis dreifach höheres Risiko, an einer Depression zu erkranken. Etwa jede 8. – 10. Person mit Diabetes weist aktuell eine Depression auf – insgesamt mehr als eine Million Menschen mit Diabetes. Die zusätzliche Zahl der Personen, die eine erhöhte Depressivität, aber nicht das klinische Vollbild einer Depression aufweisen, wird auf circa 15 – 20 % geschätzt. 

Betrifft dies mehr Menschen mit Typ-2-Diabetes oder mit Typ-1-Diabetes?
Interessanterweise zeigen die Studienergebnisse kaum Unterschiede zwischen den Diabetestypen. Das kann eventuell dadurch begründet sein, dass Menschen mit Typ-1-Dia­betes und Typ-2-Diabetes zwar unterschiedliche Belastungen im Zusammenhang mit dem Diabetes aufweisen, aber in der Summe einem ähnlichen Ausmaß diabetesbezogener Stressoren ausgesetzt sind.

Bei welcher Art depressiver Anzeichen von Menschen mit Diabetes kann eine digitale Gesundheitsversorgung ihrer Einschätzung nach Betroffenen helfen?
Es gibt eine zugelassene DiGA „Hello Better Diabetes und Depression“, diese zielt auf Menschen mit Diabetes, die bereits an einer Depression erkrankt sind. Ein großer Vorteil von digitalen Anwendungen ist, dass sie unmittelbar nach der Diagnose einer Depression verschrieben und von den Teilnehmern orts- und zeitunabhängig angewendet werden können. Dies ist angesichts der Schwierigkeiten, rasch psychotherapeutische Unterstützung zu bekommen, ein großer Vorteil.

Wo beginnt, wo endet der Nutzen einer DiGA bei Diabetes und Depression?
Bei mittelgradigen depressiven Episoden, bei denen die Therapie nicht anspricht, und bei schweren depressiven Episoden muss beachtet werden, dass entsprechend den Leitlinien eine therapeutische Begleitung durch einen Psychiater*innen, Psychosomatiker*innen oder Neurolog*innen mit psychiatrischer Zusatzausbildung empfohlen wird. Dies müssen Betroffene wissen, damit sie nicht glauben, dass eine digitale Anwendung die einzige Therapiemaßnahme bei Depressionen ist. Auch für Patient*innen mit sehr geringem Antrieb, wenig digitaler Kompetenz und Suizidgedanken sind digitale Anwendungen eher nicht geeignet.

Wie ist die Studienlage hinsichtlich digitaler Hilfen für das Diabetes-Selbstmanagement überhaupt ...?
In einer Übersichtsarbeit wurden kürzlich alle Studien zu digitalen Hilfen für das Diabetes-Selbstmanagement zusammenfassend bewertet. Die Schlussfolgerung der Autor*innen ist klar: Sie wirken. Allerdings nur bei Personen, die sie auch anwenden, was ein generelles Problem digitaler Anwendungen ist: Die Drop-out-Rate ist relativ hoch, und es sind natürlich eher digital affine Menschen, die man mit Apps erreicht. 

... und wie ist die Studienlage digitaler Hilfen bei Diabetes mellitus und Depression? 
Dies gilt gleichermaßen für psychotherapeutische Interventionen. Die bisher veröffentlichten Ergebnisse zu der schon genannten DiGA zeigen, dass die Depressivität geringer wird. Wünschenswert wäre allerdings auch, dass gleichermaßen die diabetesbezogenen Belastungen reduziert werden, da diese oft auslösende Bedingungen für erneute depressive Episoden sind. 

Da es bei Depressionen häufige Rezidive gibt, ist es zukünftig auch interessant, ob es gelingt, die Anzahl von rezidivierenden depressiven Episoden zu verringern. Ein Letztes: Die veröffentlichten Studienergebnisse zeigen, dass die App nachweislich einen kurz- und mittelfristigen Effekt in Hinblick auf die Reduktion der depressiven Symptomatik hat. Dieser Effekt ist gut und geht auch hinsichtlich der berichteten Effektstärken in die therapeutisch erwünschte Richtung. Wie bei vielen DiGAs wäre es wünschenswert, wenn die Rate der Teilnehmenden die abbrechen, geringer wäre.

Sehen Sie die Diabetologie in einer Vorreiterrolle hinsichtlich einer Digitalisierung der Medizin?
Jein! Auf der einen Seite ist Diabetes eine Erkrankung, bei der effektives Datenmanagement wichtig ist und besonders bei der Therapie Auswertungsprogramme zum Glukosemanagement und mit AID-Systemen sogar in absehbarer Zeit eine fast automatische Steuerung der Glukose möglich ist. Anderseits stehen für die überwiegende Anzahl der Menschen mit Typ-2-Diabetes neue Technologien und digitale Anwendungen bislang nur in einem geringen Ausmaß zur Verfügung. Auch werden telemedizinische Angebote, die Anwendung von künstlicher Intelligenz mittlerweile in anderen medizinischen Disziplinen deutlich fortschrittlicher angewendet. 

Haben Sie Tipps: Wie kann sich eine Ärzt*in oder eine Therapeut*in schnell ein Bild machen von einer DiGA – und ob man diese  guten Gewissens empfehlen kann? 
Den schnellsten Überblick bekommt man mit einem Blick in das DiGA-Verzeichnis des Bundesamtes für Arzneimittelsicherheit (BfArM). Hier findet man alle Informationen zu den verordnungsfähigen DiGAS, deren Inhalte, Indikation, den Preis und die Möglichkeiten der Verordnung durch ärztliche und psychotherapeutische Leistungserbringer*innen.

Welche Diabetes-DiGA ist überfällig, was erwarten Sie demnächst?  
In der „Pipeline“ sind digitale Anwendungen zum Umgang mit Glukosewerten, zur Unterstützung der Insulintitration bei Patient*innen mit einer BOT-Therapie, zum Insulinspritzen, zur Lebensstiländerung und zur Verbesserung des Diabetesselbstmanagements. Wünschen würde ich mir eine DiGA zur Reduktion von diabetesbezogenen Belastungen.

Interview: Günter Nuber